Calvins Genfer Reformation: Erwählte und Verdammte

Calvins Genfer Reformation: Erwählte und Verdammte
Calvins Genfer Reformation: Erwählte und Verdammte
 
Calvin und der Calvinismus
 
Was Luther für das Reich und Skandinavien, das war Johannes Calvin für Westeuropa. Calvin löste sich hauptsächlich unter humanistischem Einfluss von der römischen Kirche, musste deshalb 1534 unter falschem Namen aus Frankreich fliehen und beendete eine unruhige Wanderzeit 1536 in Genf, wo man den Durchreisenden drängte, dem erst kürzlich eingeleiteten Reformationswerk theologische Substanz zu verleihen. Nach einigen schwierigen Anfangsjahren stieg Calvin zum unumstrittenen Herrn Genfs auf, durch seine Glaubenslehre wie durch das Beispiel der Genfer Gemeinde hat er nachhaltig auf Westeuropa gewirkt. Die Theologie Calvins unterschied sich in mehreren wichtigen Punkten von der Luthers, nicht aber in der für den deutschen Reformator so zentralen Überzeugung von der allein, ohne menschliche Verdienste, ohne »gute Werke« gerecht machenden Gnade Gottes. Entschiedener als Luther freilich verband Calvin diese Auffassung mit der Prädestinationslehre: Gott hat alle irdische Wirklichkeit vor dem Anfang der Zeit geschaffen und vollkommen gekannt, mithin gewusst, was aus allem einmal würde und erwüchse. Also steht auch schon immer fest, welche Menschen für das Heil vorgesehen, »prädestiniert« sind und welche verworfen. Erkennungszeichen war für Calvin der rechte Glaube an Jesus Christus, ihn flößte Gott den von ihm Erwählten ein, verweigerte er den Verworfenen. Der Verworfene mochte sich noch so sehr um ein moralisch einwandfreies Leben bemühen, es würde nie ein Erwählter aus ihm. Zu den von Gott Auserwählten zu gehören, das ließ sich nämlich nicht im Nachhinein erzwingen, ließ sich nicht »verdienen«. Zum alles beherrschenden Kernstück calvinistischen Glaubens wurde die Prädestinationslehre freilich erst nach Calvins Tod, und weil auch Calvinisten in Heilsgewissheit leben wollten, verbreitete sich die alsbald so typische, aber gegenüber Calvins eigenen Anschauungen doch vergröbernde Auffassung, man könne Erwähltheit oder Verdammnis eines Menschen zuverlässig an seinem Lebenserfolg, an Reichtum und Glück ablesen.
 
Für Calvin war die Kirche ganz wesentlich eine disziplinarische Institution, sie hatte strenge Sittenzucht zu gewährleisten. Das Konsistorium überwachte das gesamte Leben der Gemeinde, ahndete Vergehen wie Trunksucht oder Kartenspiel; auf Gotteslästerung, Ehebruch und Unzucht stand die Todesstrafe, mit eiserner Faust wurde die Vielfalt der Meinungen ausgerottet. Für die Exekution schwerer Strafen nahm die Kirche die weltliche Obrigkeit in Dienst; ein umgekehrtes Unterordnungsverhältnis, wie es, jedenfalls aus Genfer Sicht, in den lutherischen Landeskirchen zu beobachten war, kam für Calvin nicht infrage. Natürlich brauchte das Konsistorium für die Sittenkontrolle Spitzeldienste, oft genug waren die Strafen kleinlich, mischte sich der Wunsch nach Reinheit und Sittenzucht mit der Freude am Elend der »Verworfenen«, ihrer Demütigung. Heiterkeit, Gelassenheit, sie suchte man vergeblich in der Stadt psalmsingender Kirchgänger, die sich gegenseitig vor dem Konsistorium anzeigten. Doch machte die Ernsthaftigkeit, mit der man dort gegen Laster und Laxheiten anging, auf viele Zeitgenossen Eindruck.
 
 Der Calvinismus in Westeuropa
 
Die Genfer Kirchenverfassung ließ sich nicht unbesehen auf andere Länder übertragen. Wo der Calvinismus im Reich Fuß fasste, geriet er unter den Einfluss des Landesherrn, seines Kirchenregiments. In Westeuropa aber, in Frankreich etwa oder in den Niederlanden, waren die Calvinisten gerade noch geduldete, später verfolgte Minderheiten. Bestimmte Züge des Calvinismus waren geeignet, jene Minderheiten zu schwierigen, hartnäckigen, zum Äußersten entschlossenen Gegnern der katholischen Obrigkeit zu machen. Luther hatte den leidenden Gehorsam gelehrt, die lutherischen Landeskirchen waren fest im Griff des jeweiligen Landesherrn — wenig erbaulich für Menschen, die sich gerade gegen ihre Regierungen auflehnten. Die bedrängten evangelischen Minderheiten Westeuropas schauten nach Genf, sie schlossen aus der von Calvin so strikt betonten Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die Souveränität Gottes, dass sie verpflichtet seien, ihre irrgläubige Obrigkeit zu bekämpfen, sie durch eine rechtgläubige zu ersetzen. Man praktizierte das Widerstandsrecht, sprach von Tyrannenmord — für das politische Denken Westeuropas wichtige Entwicklungen wurden dadurch angestoßen. Die Überzeugung, auserwählt, zum Heil prädestiniert zu sein, ließ Selbstzweifel nicht aufkommen und verlieh die unerschütterliche Gewissheit, auch als Minderheit auf der »richtigen« Seite zu stehen. Die straff organisierten Gemeinden waren effektive Kampforganisationen, subversive Zellen gewissermaßen. In Genf hielt man Gewissensfreiheit für eine muslimische Irrlehre, jede Abweichung im Glauben und im Lebensstil wurde konsequent geahndet, jeder Stein des Anstoßes durch Verbannung oder Hinrichtung eliminiert. Ausgerechnet jenes Genf aber stieß eine Bewegung an, die in Westeuropa, unter den Bedingungen des Glaubenskampfes, antiautoritär wirkte — im Frankreich der Hugenottenkriege, beim Freiheitskampf der Holländer, auch bei den englischen Puritanern.
 
Dr. Axel Gotthard
 
 
Bouwsma, William J.: John Calvin. A sixteenth-century portrait. Neuausgabe New York u. a. 1989.
 Dankbaar, Willem F.: Calvin, sein Weg und sein Werk. Aus dem Holländischen. Neukirchen-Vluyn 21966.
 Parker, Thomas H. L.: John Calvin: a biography. London 1975.
 Staedtke, Joachim: Johannes Calvin. Erkenntnis und Gestaltung. Göttingen 1969.

Universal-Lexikon. 2012.

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